Texte

Eröffnungsrede zur Ausstellungseröffnung in der Galerie des Chemnitzer Kunstvereins Laterne e.V.

Meine Damen und Herren,
wer sich heute – wie die Künstlerin, in deren Ausstellung wir uns befinden – auf archaische Bildformen beruft, geht immer einen Schritt zurück von der klassischen Ausformung des Ideals, namentlich des idealen Körpers, der immer eine Projektion ist, und statt dessen hin zu mehr unverstellter Wirklichkeit. Hin zu den Körpern, die noch mehr bei sich scheinen, obwohl sie doch auch schon Objekt sind, aber weniger Objekt einer idealen Zurichtung, die die ökonomische, politische, seelische Zurichtung übertönen soll, deutlicher: ein Subjekt, das diese Umstände als verhängnishaften Eingriff spiegelt. Kurz: Naivität gegen Ideologie. – Wir alle kennen die klassischen Fragen der Philosophie: Woher kommen wir? Wohin gehen wir? Was können wir wissen? Sollen wir glauben? usw. – Die archaische Form des Fragens lautet: Was wird? Was bleibt? Wer will, kann hinzusetzen: Was vergeht? Aber nach dem Vergangenen, das ein Verlorenes ist, fragt erst, wer vom Klassischen aus zurückgreift. Das Archaische will nicht zurück, es ist den grauen dunklen Vorzeiten mehr oder minder glücklich entronnen, es trägt noch die Spuren des Verhaftetseins; es kann nur selbst ein Erinnertes sein, sich seinerseits erinnern kann es nicht. Es überliefert sich als Urform, als Mythos, vor dem …, so geht zumindest die Sage, also die Selbsterklärung des Mythos, … vor dem war nichts. Jedenfalls nichts dergleichen.

Wer sich allerdings heute der Archaik zuwendet, kennt ein Vorher, nämlich die Gegenwart, aus der dieser Rückgriff erfolgt, und in der müssen Gründe dafür liegen, wieder und wieder in die Materie selbst zu greifen und dort nach Wahrheit zu suchen, statt sich nach dem Himmel abgehobener Ideen zu strecken.

Wir alle sind – gewiss in der Schulzeit, aber manch einer fühlt sich auch heute noch so – aufgerufen worden, Kunstwerke zu interpretieren. Besonders blöd erschien mir das schon in jungen Jahren beispielsweise einem Gedicht gegenüber, einem sehr bekannten Gedicht, das mit den Worten beginnt: »Ich weiß nicht, was soll es bedeuten.« Ja, klasse! Der Dichter weiß es selber nicht, aber die Schüler werden danach benotet, ob sie es richtig oder falsch erraten haben. Denn der Lehrplan weiß es natürlich, was Heinrich Heine selber nicht wusste, nur ahnte - vielleicht.

Ich sage das nicht, weil ich hier »mildernde Umstände« erbitten will für etwas, das ich nicht weiß. Ich sage das auch nicht, weil ich noch einmal daran erinnern möchte, dass Künstler nicht immer alles wissen, was in ihren Werken an Bedeutung steckt, manchmal haben sie es gewusst, einen Augenblick lang, aber beim Weitermachen wieder vergessen. Der schöpferische Akt ist immer, als ob man eine ganze Welt schafft, jedenfalls dermaßen komplex, da kann einem schon mal was entfallen. Schauen Sie sich die Welt an! Sieht sie nicht auch immer wieder mal komplett entfallen aus? Und ihr Schöpfer war – ich drücke mich vorsichtig aus, um keine religiösen Gefühle zu verletzen – jedenfalls kein Mensch.

Wenn wir uns in die Spur setzen, ein Kunstwerk zu erkennen, dann durchqueren wir es wie ein unbekanntes Gelände. Es kann durchaus geschehen, dass wir Einiges übersehen oder auch gar nichts verstehen, das ist das Risiko.

Kornelia Thümmel wurde in Leipzig geboren. Nach einer Ausbildung als Krankenschwester und Arbeit in diesem Beruf, u. a. drei Jahre in einem Sterbehospiz, ließ sie sich 1994 – 96 als Holzbildhauerin ausbilden. Nach zweijähriger Abendschule in Leipzig und einem Praktikum als Theaterplastikerin studierte sie von 2001 bis 2006 an der Burg Giebichenstein in Halle bei Prof. Bernd Göbel in der Fachklasse Bildhauerei, anschließend absolvierte sie ein zweijähriges Aufbaustudium. Inspirierende Reisen führten sie nach Italien und Griechenland, letzteres ein viertel Jahr. Heute ist sie als freischaffende Bildhauerin in Dresden tätig. Zu diesen etwas knappen Fakten wären vielleicht noch, um das Bild zu ergänzen, Aufenthalte in der Schweiz, seit 2013 u. a. zwei Sommer als Hirtin auf der Alm hinzuzufügen, auch weil die Tierdarstellungen, die einen wesentlichen Teil ihrer Arbeit bilden, hier im Raum lediglich durch die Bronze »Hirte« vertreten sind.

Die Ausstellung ist so aufgebaut, dass uns nichts von den Kunstwerken ablenkt, auch nicht eins vom andern. Sie brauchen Raum und Abstand. Es war anfangs noch an Zeichnungen gedacht worden. Die wurden weggelassen, damit die Bildhauerei den Raum dominiert, nicht umgekehrt. Machen wir uns also an die Durchquerung.

Und weil sich erahnen lässt, dass der Gedankengang eine lange Wanderung wird, beginnen wir bei den Füßen. Drei Keramiken »Fuß I-III« sind zu sehen. Das sind nicht die berühmten Leisten, bei denen der Schuster bleiben soll, obwohl sie auf den ersten Blick etwas orthopädisch anmuten. Die Zehen und wohl auch die Ballen sind weithin realistisch dargestellt, wie sie sich auf dem Boden hinstrecken, entspannt. Auf ihnen lastet kaum Gewicht. Anders geben sich die restlichen Teile, namentlich Ferse und Fußgelenk. Die Schamotteplastik wird hier zum Gerüst aus Vierkant-Verstrebungen, die nicht das Knochengerüst und auch nicht die Muskeln darstellen, sondern Kräfte, lastende, stützende, stabilisierende usw., die im Fuß und über ihn hinaus wirken. Man mag hier an Studien denken, die Tradition und die Regeln der Bildhauerkunst assoziieren, aber mehr noch fühlt man sich angeregt, die Figur weiterzudenken, den Kräften zu folgen, die Haltung der Person zu erraten, die aus dieser Fußstellung folgt, und zu spekulieren, wie weit man damit kommt. Nur bis in die Kniekehlen? Bis an die Hüfte oder sogar bis in den Nacken? Es gibt ja Fachleute, die raten, den Fuß keinesfalls zu unterschätzen, nicht, was das physische Wohlbefinden betrifft, nicht, was die Seele, ob wir unsere Arbeit nun sitzend, fahrend oder gehend und stehend verrichten, sie fußt ja doch auf dem Boden.

»Urform« heißt eine Plastik aus Aluminium. Das Material wirkt nicht so recht von dieser Welt, zu silbrig, industriell, nicht so irdisch wie eine Bronze. Nicht organisch wie Holz, kein Stein, aber auch nicht kreidig und weiß wie Gips. Hingegen enthält die Form all dies. Eine Art Komet aus der Ferne, gleichzeitig aber ein Klumpen Geschichte voller Informationen, wie sie nur aus dem Erdinnern stammen können – ausgegraben. Die Ungeschlachtheit der Grundform, die fragmentarische Erzählung der architektonischen und organischen Signale auf der Oberfläche, vor allem aber der Titel des Werks, »Urform«, lassen mich an die Darstellung eines Mythos denken. Was bleibt? Was wird? – die Fragen, die ich eingangs stellte, gewinnen hier Gestalt. Das Absehbare wird verworfen, das Unbekannte tritt ein. So begreift es der Mythos im Gegensatz zur wissenschaftlichen Erkenntnis, die das plötzliche Ereignis des Wunderbaren allenfalls im Nachhinein wahrnehmen will, wenn sich alles geklärt hat. Für den Mythos ist nichts geklärt. Er erzählt, nach einer bekannten Definition, »wie es sich verhält«. Nicht mehr, nicht weniger.

Zu den großen Themen der mythischen Erzählung gehört unzweifelhaft die Verwandlung, die Wandlung des Menschen überhaupt, das Werden, das Anderswerden. Sei es aus Vergnügen, sei es unter Zwang. Es gibt zahlreiche Märchen und Mythen vieler Völker, in denen von verfolgten Frauen die Rede geht, die Zuflucht in einem verwandelnden Zauber suchten. Eine große Gips-Plastik zeigt uns den Vorgang als kühnen Kopfsprung. Eine schlanke Frauengestalt fährt kopfüber in ein Felsmassiv, als ob sie in aufschäumendes Wasser taucht. Sie weiß offenbar, was sie tut. Es macht einen gekonnten Eindruck. Oder ist sie zu allem entschlossen und springt, als wäre das ihr letzter Gruß an die äußere Welt? Im Kontrast zur völligen Körperbeherrschung, die eine Selbstbeherrschung ist oder schon unter dem Bann eines Zaubers geschieht, strampeln die Zehen wie verrückt. Aus Lust oder vor Schrecken? Aus Freude oder Qual? Erlösung oder letzte Zuckung?

Die archaische Erfahrung weiß die Gefühle nicht sauber zu trennen. Sie toben im Innern und verzweigen sich ins Äußere. Aber sie gehören einem unteilbaren Menschen. Werden sie ihm je gehorchen?

Nicht nur in der christlichen Tradition, in dieser aber besonders, verbindet sich das Menschenbild mit dem des Baums und des bearbeiteten Holzes. Jesus war ein Zimmermann, der gekreuzigt wurde. Der Kreuzbalken stammte von jenem Baum, den Adam auf das Grab Abels pflanzte. Dieser Tradition ist kaum zu entkommen, am ehesten noch in Bildern von Weiblichkeit. – Zu den Holztorsi von Kornelia Thümmel möchte ich die Künstlerin selbst zitieren:

»In Ausdruck und Gestaltung sind die Körper keine glatten Wesen – sie sind keine künstlichen Wesen im Sinne vom heutigen allgemeinen Verständnis für eine genormte Schönheit ... Meinen Figuren gebe ich im gestalterischen Sinne eine Verletzlichkeit. Sie haben zu viele Körperteile oder es mangelt ihnen an anatomischen Organen. Manchmal muten sie animalisch an. (…) Ich versuche … nah am Menschen zu bleiben und Belanglosigkeiten in der Darstellung zu vermeiden. (…) Ich suche die Risse, die Furchen und Wunden.«

 

Dem wäre noch hinzuzufügen, dass es Anzeichen technischer Eingriffe in den Organismus gibt, aber auch – wie ich glaube – einen Drang zur Abstraktion, der den menschlichen Körper als Gefäß verlässt und seine Grenzen überschreitet. Nicht als Gefahr, sondern als Möglichkeit aus innerer Notwendigkeit. Der Körper muss überwunden werden, aber er darf nicht verraten und verlassen zurückbleiben.

Das klassische Ideal hat uns den Körperpanzer der Souveränität und Autonomie beschert. Die Rückbesinnung aufs Archaische ist keine Sehnsucht nach der Barbarei, sondern der Erkenntnis geschuldet, dass Barbarei nie aufgehört hat. Gleichzeitig sagt uns die Archaik – oder wenn man so will: neue Archaik – wie brüchig die Souveränität und die Autonomie des Individuums sind. Wie offen der Mensch ist für die ihm umgebende Welt und wie vieldeutig diese Offenheit ist, nicht gut, nicht böse, nicht nur.

Meine Damen und Herren,
bis zu dieser Stelle möchte ich sie durch die Ausstellung begleitet haben. Vor die große, letzte Plastik »Schachmatt« treten Sie bitte selbst und machen sich Ihre eigenen Gedanken. Kornelia Thümmel ist anwesend und wird Ihnen sicherlich eventuelle Fragen beantworten. Ich danke für die Aufmerksamkeit und wünsche der Ausstellung Erfolg, Ihnen noch einen schönen Abend.

13.03.2017 | Hans Brinkmann, Schriftsteller